Heute vor fünfundfünfzig Jahren verstarb, im gesegneten Alter von neunzig Jahren in seinem "Urwald-Hospital", Albert Schweitzer.
Mir persönlich ist der 4. September 1965 dadurch unvergesslich, dass ich damals aus den Fernseh-Abendnachrichten sie zum ersten Mal ins Bewusstsein aufnahm: den Namen Albert Schweitzer und die zugehörige, damals weltweit bekannte, weißgekleidete, knorrige Gestalt mit dem martialischen Schnauzbart und dem wirren, weißgrauen Haarschopf, oft unter einem Tropenhelm.
Fünfeinhalb Jahrzehnte später mag es interessant, wenn nicht gar brisant erscheinen, diese Biographie, dieses einzigartige Lebenswerk neu zu betrachten und zu bewerten, nämlich unter dem Aspekt der zurzeit grassierenden Ideologie des sogenannten "Antirassismus".
Dazu eine Passage aus der sehr empfehlenswerten Schweitzer-Biographie von Harald Steffahn*:
… Und so hört man denn auch an diesem Tag missmutige Äußerungen des Alten, verpackt in Ungeduld. "Stoß ihm in die Rippen", ermuntert er einen weißen Helfer, weil der Schwarze nicht tut, was er soll. Selbstbestimmung an diesem Punkt Afrikas sieht so aus, dass Schweitzer selbst bestimmt. Die progressiven Afrikaner in anderen Regionen des Erdteils erbittert solch autoritäres Gebaren. Sie wissen nicht oder wollen nicht sehen, dass unter dem kolonialistischen Symbol des Tropenhelms die genaue Antithese zum Kolonialismus wohnt: ein in Jahrzehnten gefestigtes Glücksgefühl, Helfer dieser Hilflosen zu sein. Zu Gelegenheiten wird es ohne Umschweife in Worte gefasst, so etwa, als der Achtundachtzigjährige im April 1963 bei der Feier zum Goldenen Afrika-Jubiläum seinen Schwarzen versicherte, "dass ich zu euch gehöre bis zu meinem letzten Atemzug".
Im tropischen Regenwald des Gabon ist jeder davon überzeugt. Die Patienten sowohl wie ihre gesunden Angehörigen … entbieten bei allen Gelegenheiten ein offenes "Bonjour, docteur!" …
Und wenn der Wind einmal umschlüge in der friedlichen Urwaldregion? Wenn ein radikaler rassistischer Kurs die Verehrung für den ältesten Weißen Schwarzafrikas wegspülte wie der Ogowe die Abwässer des Spitals? Der berühmteste Entwicklungshelfer der Welt ist unerreichbar für Befürchtungen solcher Art. Nicht, weil dergleichen unausdenkbar wäre, sondern weil sein Haus längst bestellt ist:
"Ich bin ganz erschüttert, dass mir ein so herrlicher Beruf bestimmt ist; das macht, dass ich innerlich unangefochten meinen Weg gehe. Eine große ruhige Musik umtönt mich innerlich. …"
Bleibt hinzuzufügen, dass der "Urwalddoktor " diese seine Berufung nicht nur als radikale Nachfolge Christi verstanden hat, sondern ausdrücklich auch als Wiedergutmachung für die früheren Schandtaten der Weißen in den afrikanischen Kolonien. Seine radikale ethische Maxime war, im heutigen Jargon, "All lives matter"! Er selbst nannte das: "Ehrfurcht vor dem Leben".
Und doch dürfte ein Zweifel nicht ganz unbegründet sein, ob die Person Albert Schweitzers, sein Andenken, sein Erbe auf die Dauer verschont bleiben wird vom fanatischen Furor heutiger "Menschenfreunde".
* Albert Schweitzer - mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Harald Steffahn.
(rowohlts monographien 263). Reinbek bei Hamburg 1979