Bei der "Kreuzabnahme" taucht dieser Mann, zum ersten und letzten Mal, in den Erzählungen der Evangelien auf. Gleichwohl ist nicht nur sein Auftreten, sondern auch seine Person allen vier Evangelisten eine knappe Charakteristik wert. Ein Jünger Jesu sei er gewesen, aber aus Furcht vor den Juden nur heimlich.* Doch immerhin habe er als Mitglied des Hohen Rates die Courage aufgebracht, dem, was die anderen beschlossen und taten, nicht zuzustimmen. In diesem Joseph, scheint mir, können wir etwas von uns wiederfinden. Ein Feigling, der mit den Wölfen heult, ist er gewiss nicht, aber doch einer, dem bislang die letzte, klare Entschiedenheit fehlt.
Nun aber, am Abend des Karfreitags, nimmt er das Herz in beide Hände. Er geht zu Pilatus und bittet um den Leichnam Jesu, dieses hingerichteten Verbrechers, um ihm den letzten Liebesdienst zu erweisen.
Und Joseph nimmt Jesus vom Kreuz ...
Über dem Portal der Burgkapelle auf Schloss Tirol bei Meran hat ein unbekannter Bildhauer des späten zwölften Jahrhunderts diese Szene auf ganz ergreifende Weise interpretiert. Joseph von Arimathäa hält hier keineswegs den toten Jesus fest, um ihn zu begraben - nein: er hält sich fest - am Auferstandenen ! Die Rollen sind geradewegs vertauscht. Beider Augen sind weit geöffnet. Und in namenlosem Staunen richtet Joseph seinen Blick hinüber, über das Grab hinweg - ins strahlende Licht des Ostermorgens.
Ich danke dir von Herzen, o Jesu, liebster Freund,
für deines Todes Schmerzen, da du's so gut gemeint.
Ach gib, dass ich mich halte zu dir und deiner Treu,
und, wenn ich einst erkalte, in dir mein Ende sei.
Paul Gerhardt: O Haupt voll Blut und Wunden, 5. Str.
* Mt 27, 57-60; Mk 15, 42-46; Lk 23, 50-53; Joh 19, 38-42