Eine schmale, kaum mehr als dreißig Seiten starke Broschüre fristet seit mehr als vier Jahrzehnten in meiner Bibliothek ihr unscheinbares, aber keineswegs unbeachtetes Dasein. Sie wurde irgendwann Mitte der 1960er Jahre vom Schutzengelverein für die Diaspora herausgegeben und enthält vier weihnachtliche Erzählungen unter dem Sammeltitel "Weihnachten in Not und Gefahr".
Da das Heftchen mit Sicherheit längst nicht mehr zu haben ist, verdient zumindest eine von ihnen, hier präsentiert zu werden: "Der gestohlene Pfarrer" von Heinrich Luhmann.
Die Erzählung versetzt uns in das siebzehnte Jahrhundert.
Es ist der Heilige Abend des Jahres 1648, irgendwo im armen, vom großen Krieg zerschlagenen Deutschland.
Da hatten sie diesen Herbst zu Münster und Osnabrück den Frieden ausgerufen. Es sollte ein Ende sein des Jammers und der Not von dreißig Jahren. Erst langsam trug sich die Kunde davon in die Städte und Dörfer des weiten Landes. Das Wort Frieden hatte für die meisten Menschen einen Klang wie der Ton aus einem alten Lied, der vor ewigen Zeiten einmal an ihre Herzen gerührt hatte. Um seine Wirklichkeit aber wussten sie nicht. Die Kinder fragten: "Frieden, Mutter, was ist das? Gehen da nicht mehr alle Tage die roten Fahnen, die Flammen, über den Dächern auf? Wächst da Korn im Felde, das uns gehört? Essen wir alle Tage Brot? Und reißt keiner mehr die Schwester und die Magd aus der Kammer? Friede, was ist das nur?"
Als es aber gegen Christtag anging, wurden die Fragen seltener im Land. Da war wirklich das Wunder geschehen, dass die Nächte ruhiger blieben, keine Feuer mehr lohten, dass auf den Tischen Schüsseln standen, aus denen man nehmen und den ärgsten Hunger stillen konnte. Die Glocken, die im Turmgestühl verblieben waren, gaben anderen Laut als in den dreißig langen Jahren. Und hier und da in den Städten, die noch ein weniges des alten Reichtums gerettet hatten, stand zur Freude auch etwas wie Festlichkeit auf und breitete gar zagen Glanz in Armut und Elend.
So hielt es auch die Stadt in der Ebene vor den Bergen. Der Handel hatte sie einst reich gemacht und königlich über das Land in der Runde herrschen lassen. Ihre Koggen befuhren die Meere, und ihre Frachtwagen zogen schwerbeladen auf allen Straßen. Nun aber war auch sie ausgeplündert wie der Mann im Evangelium - nur dass sie nicht völlig hilflos am Boden lag wie jener. Ihre Kirchen standen noch und sangen an diesem Christabend Gottes Lob in hallender Einmütigkeit ins Schneetreiben, das sich in der Dämmerung aufgetan hatte. Die größte in der Mitte, das alte Münster, war besonders gerüstet, das Uchtamt um Mitternacht mit der lange entbehrten Festlichkeit zu begehen. Der Herr Kantor und Magister Andreä Gregorius hatte ein neu und artig Kindelwiegenspiel in Noten gesetzt, dazu mancherlei löblich und fröhlich Gesang, von Männern und Frauen und Kindern in der Nacht anzustimmen.
So war es nicht zu wundern, dass einer von des Herrn Propstes Mitbrüdern, Ehrwürden Johannes Beiderlinden, noch einmal hinausschlüpfte, um im Münster nach den letzten Vorbereitungen zu sehen.
Er war nicht mehr eben jung. Das ließ auch der Mantel erkennen, der seine hohe Gestalt einhüllte. Unterm Pelzbarett wagte sich das erste Grau seines Haares hervor. Auch im Eilen war sein Gang nicht ohne stolze Würde, es lebte auch in seinen Augen und um den Mund ein wenig davon. Es stand ihm wohl schon längst eine eigene Pfründe zu - aber mochte er sich von dieser hier, der er lange Jahre gedient hatte, und von dem Stolz des Landes, dem Münster, trennen, zumal sein Vorgesetzter hohen Alters und gebrechlich war - ein Greis, dem ein Nachfolger gegeben werden musste? -
Fortsetzung folgt!
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