Mittwoch, 20. Dezember 2017

Das Lächeln des Guten Hirten

Eine Weihnachtsgeschichte aus Italien
von Julie Prise

 (Text- und Bildquelle:  "Weihnachten in Not und Gefahr"  -  siehe HIER)


Dies ist eine Geschichte aus der Zeit, als das fahle Ross durch die Länder Europas ritt, "der aber auf seinem Rücken saß, hieß der Tod".   Viel Unglaubliches ist damals geschehen, das nicht so leicht vergessen werde sollte;  denn es kam damals heraus, was im Menschen ist:  Böses und Gutes, Schrecken und Trost.

Es war Heiliger Abend am Rand des Tyrrhenischen Meeres, im Schatten des Berges Vesuv,  wo an der Kreuzung ausgefahrener Landwege einige Hütten sich unter dem Glanz der Sterne Italiens zusammendrängten.  Und in diesen Hütten war nichts mehr zu essen  -   gar nichts mehr.  Denn wo einmal reiche Weinberge geblüht hatten,  da waren nur noch die Hufspuren des fahlen Rosses zu sehen.
Aber weil Heiliger Abend war und weil die Menschen dieses kleinen Dorfes sich doch noch erinnerten, dass es eigentlich eine Nacht der Freude sein sollte, so trieb es sie zu dem verfallenen Schulhaus neben der Kirche.  Hier gaben ihnen die Schwestern manchmal etwas zu essen  -   wenn sie konnten.

Schwester Maria Magdalena sah sie kommen:  den alten Nonno Piazza, der ohnehin nur noch ein paar Tage zu leben hatte  -  selbst mit Essen;  Rosa Armandi, schwerfällig von dem Kindchen, das bald zur Welt kommen sollte;  Giuseppe, der als Bub heimlich in die Kirche geschlichen war, um fröhlich auf der Orgel zu spielen   -  jetzt war er hochgeschossen und hatte nur noch einen Arm;  die anderen jungen Männer, die mit zusammengeschobenen Schultern, die Hände in den Taschen, sich gegen den Wind vorwärtsschoben;  die Kinder;  die mageren jungen Mädchen.  Wie in einem bösen Traum sah die Schwester den schäbigen, ausgemergelten Zug auf sich zukommen.

Sie sprach zu Schwester Maria Angela, die ihr über die Schulter sah:  "Sie kommen.  Wie ich es Ihnen gesagt habe.  Und sie wissen, dass der Pater nicht hier ist;  dass es keine Mitternachtsmesse gibt."

Schwester Angela ließ ruhig ihren Rosenkranz durch die Hände laufen.  "Er wird schon Hilfe finden", sagte sie.

Der abgenutzte Vorhang blieb an Schwester Magdalenas rauhen Händen hängen, als sie sich vom Fenster abwandte.  "Nein. Man kann nicht mehr hoffen."


Sie öffnete auf das zaghafte Klopfen die Tür, und die Bauern kamen herein, mit niedergeschlagenen Augen, als wollten sie sich entschuldigen, und in dumpfem Schweigen, außer einem halblaut gemurmelten "Guten Abend, Sorelle".  Sie lehnten sich an die Wand des spärlich beleuchteten Zimmers, in dem der Gute Hirte stand, das gerettete Schäflein in den Armen.
Sie baten nicht um Essen.  Sie standen bloß da.  Wie Störche, dachte Schwester Magdalena, als sie die dürren Beinchen der Kinder sah.

"Keine Messe heute nacht", sagte sie.  "Morgen früh kommt der Pater wieder."
"Der Pater  -   er wird nichts zu essen bringen!"  Es war die brüchige Stimme von Großvater Piazza,  der das rote Hemd Enricos anhatte, der nun am Fuß des Hügels lag.
Sie wusste, sie hätte sagen sollen: "Hoffet weiter",  aber sie war ebenso müde, es zu sagen, wie die Bauern, es zu hören.  Sie sah das Gesicht des Guten Hirten an und versuchte einen Gedanken zu verjagen, weil sie wusste, dass er ehrfurchtswidrig war:  Wenn doch der Bildhauer die Wangen des Bildes ausgehöhlter gemacht hätte   -   so ausgehöhlt wie die Wangen ihrer Leute hier.  Die Statue sah zu wohlgenährt aus.  Der Gedanke kam immer wieder und wollte nicht weggehen, wie eine Fliege, die um den Esstisch brummt.

Selbst Schwester Angela blickte zu ihr hin, anstatt sich zu überlegen, was sie den Leuten sagen könnte.  Selbst der Pater würde auf sie schauen, wenn er hier wäre.  Sie wünschte, sie könnte hinaus in die Nacht gehen, sich irgendwo hinlegen und ruhig sterben.


 (Fortsetzung folgt)

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