Sonntag, 15. Januar 2012

Klerus und Schach (2)

 



Vlastimil Hort  zählte jahrzehntelang im internationalen Schachsport zu den ganz großen Meistern. 
1979 übersiedelte der gebürtige Tscheche, Jahrgang 1944, in die Bundesrepublik, nahm später die deutsche Staatsbürgerschaft an, spielte viele Jahre in der Bundesliga und vertrat auch seine Wahlheimat im Nationalteam.
Vor allem aber ist Vlastimil Hort  ein ganz besonders  sympathischer und liebenswürdiger Vertreter seiner Zunft.  Vor Jahren konnte ich Großmeister Hort persönlich als wahren gentleman des Schachs kennenlernen, als einen, dem Arroganz und Star-Allüren völlig fremd sind, als ich, in Nußloch bei Heidelberg, die Ehre und das Vergnügen hatte, gegen ihn antreten zu dürfen. Natürlich nicht auf "Augenhöhe", sondern bei einem sogenannten Simultanspiel, wobei ein Schachmeister gegen mehrere, oft einige Dutzend durchschnittliche Spieler gleichzeitig spielt. Selten hat dabei so ein Amateur auch nur den Hauch einer Chance gegen den Meister; der Leistungsunterschied ist gigantisch.
Ich war in guter Form und gab mein Bestes, musste aber schon nach 33 Zügen die Waffen strecken, drückte meinem prominenten Gegner die Hand  und bat um ein Autogramm. Hort, mit böhmischem Akzent: "Sie haben sehr gut gespielt,  Dankeschön."  Dabei hatte ich den Großmeister, der wohlgemerkt etwa zwanzig Partien simultan zu bestreiten hatte, allenfalls genötigt, an meinem Brett ein paar Mal länger als zehn Sekunden zu verweilen und die Partiestellung zu mustern,  bevor er seinen Gegenzug ausführte. Und dennoch hat er mir, dem Dilettanten, nicht einen Augenblick lang das Gefühl vermittelt, als Gegner, als Partner nicht ernstgenommen zu werden.

In einer kleinen autobiographischen Skizze Schach ist das Leben (in: "Schach", ed. H. Pfleger / H. Metzing) erzählt Vlastimil Hort von seiner Kindheit und den ersten Schritten in die Schachwelt in seiner Heimatstadt Kladno, unweit von Prag.
Wie schon gesagt, zu Meisterschaftskämpfen ging es am Sonntag. Falls die Schachgesellschaft "Slovan Kladno" auswärts spielte, hatten wir sogar einen Bus zur Verfügung. Ich konnte mitfahren und zugucken, weil jeder im Verein zu dem Jüngsten nett war, und die Schachwelt erschien mir als Paradies. 
"Jetzt noch schnell zur Kirche", sagte Metzgermeister Saidl zu unserem Fahrer. Ich wusste im ersten Augenblick nicht, ob die erste Mannschaft vor dem entscheidenden Kampf noch beten wollte, jedenfalls war es mir ein Rätsel, warum wir zur Kirche fuhren und so noch mehr Zeit verloren. An diesem Sonntag ging es nach Podebrady, und weil sich die Spieler langsam versammelten, war es schon bedenklich spät. Die Wartezeit war auf eine Stunde begrenzt und sollte von Gästen nicht überschritten werden. Ich wusste damals nicht, dass der Verein eine versteckte Trumpfkarte besaß, die nur in äußerst dringenden Fällen ausgespielt wurde.
Der Bus wartete, plötzlich öffnete sich das Kirchtor, und man konnte noch die letzten Orgelakkorde der Messe hören. Herbei stürzte eine schwarze Figur, der Pfarrer der Stadt Kladno, der dritte Ferda, mit vollem Namen Ferdinand Laudin, stieg in den Bus, er hatte sich im Laufen noch die Priestersoutane ausgezogen, und nun ging es in aller Eile nach Podebrady. Der Busfahrer sah auf die Uhr und sagte mit ruhiger Stimme zu ihm: "Wir haben noch Zeit, hochwürdiger Herr", und fuhr mit uns wie Niki Lauda nach Podebrady, einem schönen Kurort, wo sich die Rivalen zu unbarmherzigem Kampf trafen.  Herr Pfarrer Laudin spielte sehr selten, dann aber sehr gut am ersten Brett, und wenn er die Partie nach zwanzig Zügen gewonnen hatte, war mein Vertrauen zu ihm "himmelhoch".
So hat  Hochwürden Ferda Laudin,  der Pfarrer von Kladno,  wohl  nicht wenig dazu beigetragen, dass  aus dem kleinen Vlastimil  ein wirklich großer Meister  geworden ist.
Im Rückblick stellt der Erzähler seinen Schach-Vorbildern die fiktive Interview-Frage "Was bedeutet für euch Schach?" und legt Pfarrer Laudin folgende Antwort in den Mund:
Schachspiel ist wunderbar. Wenn ich eine schöne Schachstudie sehe oder einen entscheidenden Angriff beginne, dann freue ich mich doppelt über die menschliche Vollkommenheit, die wir von unsrem Herrn geschenkt bekamen.









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